Jewgenij Alexandrowitsch Gnedin (29. November 1898, Dresden – 14. August 1983, Moskau), ein Sohn des russischen Revolutionärs Alexander Parvus, war in den 1920er Jahren als sowjetischer Diplomat tätig, u. a. 1935 als Erster Sekretär der sowjetischen Botschaft in Berlin; später leitete er in Moskau die Presseabteilung des Außenministeriums.
1939 wurde er verhaftet und 1941 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach Stalins Tod wurde Gnedin rehabilitiert und in die Partei wieder aufgenommen, aus der er 1979 austrat und zum Dissidenten wurde.
Jewgenij Alexandrowitsch Gnedin war (…) ein Mensch aus den zwanziger Jahren. Schon bevor wir ihm zum ersten Mal begegneten, wußten wir, daß er lange Zeit im Gefängnis, im Lager und in der Verbannung verbracht hatte. Dennoch waren an ihm keine Spuren von Leiden oder Verbitterung zu erkennen. (…) Wir lasen seine Artikel im „Nowyj mir“. Er schrieb vorwiegend soziologische Essays über den zeitgenössischen Westen. (…) Gnedin war sehr gebildet, er sprach fließend deutsch und französisch, las in mehreren europäischen Sprachen. Er war ein freundlicher Gesprächspartner, hörte lieber zu, als daß er redete, widersprach ruhig und auf eine Art, die seinen Opponenten nicht beleidigte. Er war ein toleranter, feinsinniger Marxist und lehnte nicht nur die Stalinschen theoretischen Fälschungen, sondern auch die Leninsche Dogmatik ab. Was und besonders wie er sprach und schrieb, gefiel uns, auch wenn wir seine Meinung nicht teilten. (…) An dem, was er (über seine Zeit in der Haft) schrieb *, faszinierte uns stets sein Mut zur schonungslosen Selbsterkenntnis. Dabei beschäftigte er sich nie ausschließlich mit sich selbst. Er erzählte von seiner Vergangenheit und hatte stets die allgemeine Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft im Blick. Sein lebhafter Sinn für Humor begleitete auch sehr ernste und traurige Erkenntnisse. (…) Gnedin war einer der Gründer und selbst aktiver Autor des Samisdat-Almanachs „Pamjat“ (Gedächtnis) und der Zeitschrift „Poiski“ (Auf der Suche).
Raissa Orlowa / Lew Kopelew: Wir lebten in Moskau. Albrecht Knaus Verlag,
München 1987
* gemeint sind illegal abgetippte, als lose Blätter oder gebunden vervielfältigte Texte von Gnedin, die, wie
viele andere offiziell verbotene, im „Selbstverlag“ (Samizdat) herausgegebene Texte anderer
andersdenkender Intellektueller und Dissidenten unter Freunden und Gleichgesinnten von Hand zu Hand
weitergereicht wurden. Der Besitz und vor allem die Herstellung von Samizdat-Druckerzeugnissen war
strafbar.